Der Apostel Paulus setzt die Gottesfurcht seines geistlichen Sohnes Timotheus nicht einfach voraus, weshalb er seinem langjährigen Begleiter und Mitarbeiter schreibt: »Übe dich in der Gottesfurcht.« Und wenn Timotheus diese Ermutigung brauchte, dann brauchen wir sie ganz sicher auch noch heute.
In dieser Ermahnung verwendet Paulus einen Ausdruck aus dem Bereich der Leichtathletik. Für »üben« steht hier ein Wort, das eigentlich das Training junger Sportler für die Wettkampfspiele der damaligen Zeit beschrieb. Später weitete man die Bedeutung aus auf das Training des Körpers oder des Geistes in einer bestimmten Fähigkeit.
Trainingsgrundsätze
Mit seiner Ermahnung an Timotheus spricht Paulus mehrere Grundsätze aus, die auch für uns heute gelten. Erstens das Prinzip der persönlichen Verantwortung. »Übe dich«, sagt Paulus. Er macht Timotheus persönlich für seinen Fortschritt in der Gottesfurcht verantwortlich.
Er durfte sich nicht zurücklehnen und das eigene Wachstum Gott überlassen, obwohl er natürlich wusste, dass jedes Wachstum nur durch göttliche Befähigung möglich war. Er sollte verstehen, dass er aufgerufen war, an diesem Aspekt des Heils selbst mitzuwirken im Vertrauen auf Gottes Wirken in ihm. Paulus’ Botschaft an ihn war, dass er an der Gottesfurcht arbeiten musste. Er sollte danach streben.
Wachstum in der Gottesfurcht bedarf Fleiß
Wir Christen mögen sehr diszipliniert und fleißig sein im Umgang mit unserer Arbeit, unserem Studium, unserem Familienleben und sogar unserer Gemeindeaufgabe, doch im geistlichen Leben neigen wir zur Faulheit. Viel lieber würden wir beten: »Herr, hilf mir wachsen«, um uns dann zurückzulehnen und zu warten, bis Gott auf geheimnisvolle Art und Weise unser Wesen verwandelt. Das tut Gott tatsächlich, aber nicht unabhängig davon, ob wir unserer persönlichen Verantwortung nachkommen. Wir müssen uns selbst trainieren und erziehen, gottesfürchtig zu sein.
Wachstum in der Gottesfurcht bedarf Training
Als zweites Prinzip können wir aus der apostolischen Ermahnung ableiten: unser Training hat geistliches Wachstum zum Ziel. An anderer Stelle ermuntert Paulus seinen Schüler Timotheus, in seinem Dienst Fortschritte zu machen. Hierbei jedoch geht es um seine persönliche Hingabe an Gott und das aus dieser Hingabe entstehende Verhalten. Selbst als erfahrener und gut ausgebildeter Gemeindeleiter musste Timotheus noch in den wesentlichen Bereichen des gottgemäßen Lebens wachsen: in der Gottesfurcht, in der Erkenntnis der Liebe Gottes und in der Sehnsucht nach der Gegenwart und Gemeinschaft Gottes.
Ich stehe seit über 25 Jahren in der vollzeitlichen christlichen Arbeit und war sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten eingesetzt. Dabei bin ich vielen begabten und fähigen Christen begegnet, doch weit weniger gottesfürchtigen Menschen. Wir betonen vielmehr den Dienst für Gott. Vergessen wir nicht, Henoch war ein Prediger der Gerechtigkeit zu einer Zeit gröbster Gottlosigkeit, doch in den wenigen Versen über sein Leben lesen wir nur von seinem Wandel mit Gott. Worin trainieren wir uns? Trainieren wir uns in christlichen Aktivitäten, so gut diese auch sein mögen, oder trainieren wir uns in Gottesfurcht?
Wachstum in der Gottesfurcht bedarf Mühe
Das dritte Prinzip, das wir aus der Aufforderung an Timotheus herauslesen können, sind bestimmte Mindestanforderungen beim Training. Wenn wir im Fernsehen die Olympischen Spiele verfolgen und hören, wie der Kommentator den Werdegang der Sportler kurz skizziert, erkennen wir die harten Ansprüche an einen Olympiateilnehmer. Wahrscheinlich hatte Paulus diese olympischen Anforderungen im Sinn, als er das Training in der Gottesfurcht mit dem Training eines Sportlers verglich.
Der Einsatz ist hoch
Die erste unumgängliche Voraussetzung ist voller Einsatz. Niemand erreicht Olympianiveau oder auch nur das Niveau einer nationalen Meisterschaft, wenn er sein tägliches Härtetraining nicht mit vollem Einsatz absolviert. Niemand wird gottesfürchtig, ohne die Verpflichtung zum täglichen geistlichen Training und ohne sich mit vollem Einsatz den Wachstumserfordernissen Gottes zu stellen.
Das Konzept der Verpflichtung wird in der gesamten Bibel sichtbar. Es findet sich in dem Schrei Davids zu Gott: »früh suche ich dich« (Ps 63,2). Es findet sich auch in den Verheißungen an die Verschleppten in Babel:
»ja, ihr werdet mich suchen und finden, wenn ihr von ganzem Herzen nach mir verlangen werdet; und ich werde mich von euch finden lassen« (Jer 29,13–14).
Es wird im Nachjagen von Paulus deutlich, um das Ziel zu ergreifen, so wie er selbst von Christus ergriffen war (Phil 3,12). Im Hebräerbrief werden wir aufgerufen, der Heiligung nachzujagen (Heb 12,14), und Petrus schreibt:
»setzt ebendeshalb allen Eifer daran und reicht in eurem Glauben […] Gottesfurcht [dar]« (2Pet 1,5–7).
Nichts von diesem Streben, Drängen und Bemühen wird ohne unser eigenes Engagement geschehen.
Gottesfurcht hat ihren Preis, sie ist nicht im Ausverkauf zu haben. Weil sie nicht billig ist, fällt sie keinem in den Schoß. Das Wort »trainieren« beschreibt eine dauernde, unermüdliche, schonungslose Anstrengung. Paulus wusste um den vollen Einsatz, der diesen jungen Sportlern für einen vergänglichen Siegeskranz abverlangt wurde. Die Gottesfurcht dagegen, deren Krone von Dauer ist, ist zu allen Dingen nützlich, sowohl in diesem als auch im kommenden Leben. Darum der Aufruf an Timotheus und an uns heute, den unverkürzten, zum Training der Gottesfurcht erforderlichen, Einsatz zu leisten.
Professionelle Trainerbetreuung
Die zweite unabdingbare Voraussetzung für das Training ist ein fähiger Lehrer oder Trainer. Kein Sportler, wie begabt er auch sein mag, schafft das Olympialimit ohne einen ausgebildeten Trainer, der ihm Höchstleistungen abverlangt und jeden kleinsten Fehler erkennt und korrigiert. So ist auch unser Training in der Gottesfurcht ohne den Lehr- und Trainingsdienst des Heiligen Geistes vergeblich. Er trimmt uns auf Höchstleistungen, indem er uns belehrt, zurechtweist und korrigiert. Er lehrt und schult uns durch sein Wort. Darum müssen wir unablässig mit dem Wort Gottes in Kontakt bleiben, wenn wir in der Gottesfurcht wachsen wollen.
In Titus 1,1 spricht Paulus von »der Erkenntnis der Wahrheit, die der Gottesfurcht entspricht.« Ohne diese Erkenntnis können wir unmöglich in der Gottesfurcht wachsen. Die Wahrheit finden wir nur in der Bibel. Diese Erkenntnis meint allerdings mehr als akademisches Wissen über biblische Fakten. Es geht um geistliches Wissen, das vom Heiligen Geist gelehrt wird, indem er die Wahrheit Gottes auf unser Herz anwendet.
Rechtgläubigkeit ist keine Gottesfurcht
Es gibt sogar ein religiöses Wissen, das dem Training in der Gottesfurcht entgegensteht. Erkenntnis kann zu geistlichem Hochmut führen (1Kor 8,1), wie es bei den Korinthern der Fall war. Sie wussten um die Nichtigkeit der Götzen und um die Bedeutungslosigkeit der Götzenopfer, darum aßen sie vom Opferfleisch. Sie wussten jedoch nichts von ihrer Verantwortung zur Rücksichtnahme und Liebe gegenüber dem schwächeren Bruder. Rechte geistliche Erkenntnis, die zu Gottesfurcht führt, kann nur der Heilige Geist vermitteln.
Es gibt rechtgläubige und aufrichtige Menschen, die nicht gottesfürchtig sind, nicht von Hingabe an Gott beseelt. Sie sind nur ihrer eigenen Rechtgläubigkeit und ihren moralischen Verhaltensnormen treu.
Von dieser falschen Selbstsicherheit kann uns nur der Heilige Geist lösen. Darum müssen wir aufmerksam auf seinen Schulungsdienst hören, um zu wachsen, und uns intensiv mit Gottes Wort beschäftigen, durch das er uns lehrt. Diese Auseinandersetzung muss von tiefer Demut hinsichtlich unserer Fähigkeit, geistliche Wahrheit zu verstehen, begleitet sein und von dem Bewusstsein unserer völligen Abhängigkeit von seinem Wirken in unseren Herzen.
Harte Arbeit
Die dritte unumgängliche Voraussetzung im Ausbildungsprozess ist harte Arbeit. Nur durch unermüdliches Üben werden die Fähigkeiten entwickelt, die der Trainer fördern will. Übung macht den Meister, wie im Sport so auch in der Gottesfurcht. Unsere Arbeit an einem gottgefälligen Leben macht uns erst zu wirklich reifen Christen. Zum Olympianiveau gibt es keine Abkürzung und zur Gottesfurcht erst recht nicht. Nur der tägliche und treue Einsatz der Mittel, die Gott für uns vorgesehen hat und die der Geist verwendet, kann uns darin wachsen lassen. Wir müssen an unserer Gottgefälligkeit arbeiten, wie der Sportler an seinen körperlichen Fähigkeiten arbeitet.
Wir müssen zum Beispiel die Gottesfurcht üben, falls wir diesen Hingabeaspekt vertiefen wollen. Wenn wir Albert Martin zustimmen, dass Gottesfurcht die rechte Vorstellung von seinem Wesen, das durchdringende Empfinden seiner Gegenwart und ein ständiges Bewusstsein unserer Verantwortung ihm gegenüber bedeutet, dann müssen wir unser Denken mit diesen biblischen Wahrheiten füllen und unser Leben danach ausrichten, bis wir in gottesfürchtige Menschen verwandelt werden.
Wenn wir überzeugt sind, dass Demut ein gottgemäßer Charakterzug ist, dann wollen wir verstärkt über Schriftstellen wie Jesaja 57,15 und 66,1–2 nachdenken, wo Gott selbst die Demut lobt. Lasst uns über diese Verse beten und den Heiligen Geist bitten, sie in unserem Leben zu verwirklichen, indem er uns wahrhaft demütig macht. Das ist die Praxis der Gottesfurcht! Sie ist nichts Übernatürliches, sondern ganz praktisch, greifbar und manchmal sogar etwas schmutzig, wenn der Heilige Geist an uns arbeitet. Doch es ist immer lohnend, wenn wir sehen, wie der Geist uns mehr und mehr in gottesfürchtige Menschen verwandelt.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus „Leben in Gottesfurcht“ (Kap. 3).